Liebes Archiv...Einträge vom Dezember 2005

Vor der Schmelze.

[]Berlin / Freitach, 30. Dezember 2005

Ja! Na also!

Der Schnee knirscht unter den Reifen, ich bin eingemummelt wie damals zum Skifahren und errege im Bannkreis vielleicht Aufsehen. Auf dem Gehweg fährt es sich ganz gut, auf der Straße ist es viel zu seifig. Räumfahrzeuge schießen mit unangemessenem Tempo vorbei. Die Innenstadt fährt im Übrigen im Leerlauf, nur wenige Touristen kämpfen sich durch das Schneetreiben. Weil ich immer wieder anhalte und fotografiere, frieren abwechselnd meine Zehen und meine Finger, dann muß ich wieder ein paar Meter strampeln. Alles in allem aber ist es das, was den Winter so geil macht!

[]Berlin / Donnerstach, 29. Dezember 2005

Die ersten Böller kreischen.

Ich wälz mich im Bett rum bis 10 vor 12, kann einfach nicht aufstehen nach diesen anstrengenden Tagen, schleppe mich dann aber doch zum Sofa und geb mir redlich Mühe, den bunten Teller auf dem chaotischen Tisch nicht länger so überquellend rumstehen zu lassen. Es ist arschkalt draußen, die Pfütze auf meinem Balkon gefroren, der Wind reißt die Schneehauben von den Blumen auf meiner Nachbarin Balkon. Hab auch keinen Grund rauszugehen, hab genug zu essen, keine Geschenke umzutauschen, keine Verpflichtungen, keinen Antrieb.

[] Berlin / Dienstach, 27. Dezember 2005

Na also!

Gestern abend fing's an, als wir in der Kneipe saßen, vorm Fenster, im Schein der Laterne begannen die Flocken vor unseren erstaunten Augen lautlos aus dem Dunkel herabzuschweben. Endlich! Es ist immer wieder ein Wunder, wer hätte zu hoffen gewagt, daß die Wetterfrösche die Wahrheit sprechen würden. Doch erst später in der Nacht wurde das Weiß so ergiebig, daß es begann, alles zu bedecken, sich hoch auf Ästen und Autos zu stapeln. Und so schneit es immernoch...

[]Berlin / Montach, 26. Dezember 2005

Das Sodbrennen kommt wieder.

Knapp überstanden ist das alljährliche Prassen im Kreise der Lieben. Zweimal Karnickel und einmal Gans. Jetzt schraub ich mir einen Whisky rein, um etwas Ordnung in die Gedärme zu kriegen, kann dabei natürlich den bunten Teller nicht übersehen, den ich - zufällig? - in Reichweite plaziert habe.
Am Heiligen Abend Karnickel, immer wieder gilt es zu bedauern, daß man kein Kind mehr ist und die Geschenke sich nicht mehr türmen wie in der geschönten Erinnerung, es redeten alle durcheinander, daß sich mir der Kopf drehte. Am Ersten Karnickel und ein ausgedehnter Verdauungsspaziergang. Heute, am Zweiten, endlich die Gans, und endlich der Schnee. Aber jetzt ist genug! Doch im Kühlschrank wartet noch eine Portion Gans mit Rotkohl...

[] Berlin / Montach, 26. Dezember 2005

Frühstück bei mir.

Recht ruhig sitze ich beim späten Frühstück, Waffeln mit Quark, Himbeerkonfitüre und Gorgonzola --> Geheimtip!, dazu einen Caro-Kaffee, war noch mal einkaufen nach dem entspannten Einpacken der Weihnachtsgeschenke. So weihnachtlich untergenervt war ich ja lange nicht, also ist es nicht von Nachteil das Mega-Event des Einzelhandels völlig zu ignorieren. Hab die Musik gerade von Depeche Mode's Playing an Angel (russische mp3-Sammlung) nach Robbie Williams' Swing when you're winning gewechselt, keine Schneeflocke zu sehen weit und breit, Nieselregen stattdessen. Naja, was soll man machen.
Nun versuch ich mich nochmal entspannt zurückzulehnen, bevor die alljährliche Prasserei losgeht... euch allen da draußen wünsche ich ein entspanntes Fest ohne lieb- und gedankenlosen Geschenkmarathon.

[] Berlin / Samstach, 24. Dezember 2005

X-Mas!

An alle Gläubigen und Ungläubigen: Frohes Fest!

[]Berlin / Samstag, 24. Dezember 2005

Kaliningrad - Ein Nachruf.

AAAbschied ist ein scharfes Schwert, das ooh soo tief ins Herz dir fährt. Roger Whittaker.

Es heißt Abschiednehmen vom maroden, unter der Oberfläche pulsierenden Satelliten Rußlands, der Erinnerung an real-existierenden Kommunismus und zugewucherte deutscher Geschichte. Abschied von der zweiten Heimat aller jemals hergestellten Audi 100, vom Laufsteg der Legionen blondierter aufreizender Stiefelträgerinnen, von Familien mit Kinderwagen und Bierpulle am Hals.... Ein Lebewohl den geisteskranken Rasern, die Fußgänger auf dem Zebrastreifen erschrecken, den im Einsatz zerfallenden O-Bussen und den über verbogene Schienen rockenden Straßenbahnen. Adieu der offenen Kanalisation, den spiegelglatten Winterstraßen und Gehwegen, den entweihten deutschen Kirchen und neuen sakralen Zwiebeltürmen, den verrotteten Altbauten und Plattensiedlungen, den herrenlosen Obstgärten und der starken Natur, die sich ihr Terrain zurückerobert, der bernsteinigen Ostseeküste mit ihren schlafenden Ausflugszielen. Ade dem billigen Bier und 100 Gramm Wodka mit Pepperoni, dem guten russischen Pop in der Disko Planeta, dem Hafen (immer für ein stimmiges Bild gut), dem Hotel Moskau, das auch ohne viel Dienst am Gast funktioniert, dem verwilderten Zoo, dem neuen Kraftwerk, das endlich das Abschalten des litauischen Atomkraftwerks ermöglicht. До Свидания Кёниг!

[] Warszawa war nich, also Berlin / Mittwoch, 21. Dezember 2005

Letzte Safari.

Es schneit und schneit und schneit. Eine gutgemeinte Vorbereitung auf die harte Zeit ohne Schnee zuhause? Ja, danke! In der Tat, den letzten Schnee sehen wir am Warschauer Flughafen, Berlin, Nieselregen, wie man es kennt und fürchtet, ich bin aufgepumpt mit Winterlaune, hab einen kleinen Puffer, mal sehen ob er bis zum Schneefall hier reicht...die Tafel Schokolade liegt bereit.

[]Für Kaliningrad / Mittwoch, 21. Dezember 2005

Für einen Teller Suppe.

Das soziale Netz ist hier so weitmaschig, da fällt einfach jeder durch, der nicht gut balancieren kann, kein Vitamin B hat und nicht frech genug ist, sich zu nehmen was er zu brauchen meint. Auch vor Kriegsveteranen oder ehemaligen Helden der Arbeit macht die Armut nicht halt. Wenigstens dürfen sie kostenlos mit dem Bus fahren. Die einen betteln, die anderen machen mit offensichtlich unbeliebten Arbeiten wie Schneeräumen, Straßenfegen und Putzen ein paar Kopeken, andere verkaufen Äpfel und Selbstgemachtes und stehen dafür den ganzen Tag an der Straße. Der deutsche Malteserhilfsdienst unterhält in Kaliningrad eine Suppenküche. Hier werden Bedürftige an Wochentagen mit einem Teller Suppe und einem Tee gespeist. Erst kommen die Alten mit den speziellen Ausweisen, danach die völlig Kaputten, Alkoholiker und übelriechende Obdachlose.
Die Schere klafft - ist das eine Vorschau oder ist unser Land dafür doch zu reich?

[] Kaliningrad / Dienstach, 20. Dezember 2005

Vorsicht, Glätte!

Sowas könnte mir natürlich nie nie nie passieren! Wie auch die lieben Spanier sind die Hiesigen mit der weißen Pracht etwas überfordert, sie polieren den Schnee mit ihren Sommerreifen, indem sie beim Anfahren kräftig Gas geben. Da kann man schon mal vom rechten Weg abkommen (Das Modell im Bild ist auch ein Vorgänger des Omega und fährt somit noch nicht wie auf Schienen - man erinnere sich der beliebten Werbekampagne aus dem letzten Jahrhundert).
Langsam ist aber genug des ausgelassenen Fotografierens - ich komm ja garnicht mehr zum Fernsehen!!!

[] Kaliningrad / Montach, 19. Dezember 2005

Der W-Baum steht - und es schneit!

Also doch. Jetzt steht er, der russisch-orthodoxe Weihnachtsbaum. Weil das Geld knapp ist, hat man sich für ein rezyklierbares Modell aus Stahl und Plastik entschieden. Reich geschmückt blinkt er nervös wie ein falsch programmierter Leuchtturm und zieht Scharen von Kindern und jungen Pärchen an, die sich fotografieren lassen und angesichts des Baums die Augen verblitzen.
Daneben der freundliche Kollege vom Bauzentr im roten Einteiler, er hat einen blauen Elefanten geschultert, dem er brutal den Rüssel zudrückt. Dazu winkt er harmlos mit der freien Hand - ein Schelm wer Böses dabei denkt!

[]Kaliningrad / Sonntach, 18. Dezember 2005

Kameraschmeißen II.

Der Wahnsinn geht weiter! Doch immernoch wird nich geschmissen sondern gedreht. Das linke (durch Nachbearbeitung in seiner Farbe noch etwas hervorgehoben) ist mein Favorit.

[] Kaliningrad / Samstach, 17. Dezember 2005

Wir schmieren uns 'ne Stulle aufm Fensterbrett.

Man nehme: einen vollen Schreibtisch, ein Fensterbrett, wo es kühl hereinzieht (damit wird der fehlende Kühlschrank kompensiert), eine Lage Zeitung, ein Taschenmesser, Brot, Aufschnitt von Käse und Fleisch, Butter. Gekonnt öffne man das Brot mit dem Messer, verteile die gute Butter gleichmäßig auf beiden Hälften, füge aus der gerade geöffneten Packung zwei Scheiben Schinken und eine Scheibe Käse hinzu. Jetzt klappe man die Hälften zusammen und führe sie langsam zum Mund, dabei ein Auge auf das Glas mit den sauren Gurken und eins auf die Dose Importbier gerichtet. Dessen Inhalt gebe man abwechselnd mit dem Brot in den Mund, um den höchstmöglichen Genuß zu erzielen. Guten Appetit!
Tip: Dabei kann man die Stulle für morgen mit schmieren!

[] Kaliningrad / Donnerstach, 15. Dezember 2005, später

Ungeteilte Aufmerksamkeit.

[] Kaliningrad / Verregneter Donnerstach, 15. Dezember 2005

Kameraschmeißen.

Natürlich schmeiße ich meine Kamera nicht in die Luft, um sie beim Auffangen aus den Händen rutschen zu lassen und unsanft aufs Pflaster klatschen zu sehen. Ich fang klein an. Die Belichtung also hoch gestellt und den Blitz aus. Auf dem Bett nehme ich den Fernseher in den Fokus, drücke den Auslöser und werfe die Kamera hoch, leider trifft sie schon vor dem Knipsen auf, da ist Training nötig. Ich mache erstmal ein vorsichtiges Experiment in James-Bond-Manier, geschüttelt statt gerührt. Das Ergebnis des aushäusigen Tests, das verwischte Porträt des Nordbahnhofs, ist nebenan zu sehen. Wer's mag.

[]Kaliningrad / Mittwoch, 14. Dezember 2005

Abt. Das kann ich auch!

Wenn man mit seiner Kamera nicht zufrieden ist, sollte man sie erstmal umherwerfen, als sie gleich für immer wegzuwerfen! Der Initiator des neuen Fotostils erklärt gern die ersten Schritte. Und heute werde ich es mal vorsichtig ausprobieren.

[] Kaliningrad / Montach, 12. Dezember 2005

Es weihnachtet überhaupt nicht sehr.

Der dritte Advent ist gegangen, doch niemand hört mich in diesem Jahr fluchen über die frühzeitigen, unmäßigen und unbarmherzigen weihnachtlichen Vorbereitungen des Einzelhandels und der Leute vom Fernsehen. Nein, es gibt keinen Grund.
Ganz unaufgeregt und zurückhaltend wünscht man sich hier bisher mittels Lichtbändern lediglich optisch ein gutes Neues Jahr, einige Schaufenster warten mit unaufdringlichen, still blinkenden, künstlichen Weihnachtsbäumen auf und heute soll der Baum auf dem Platz des Sieges errichtet werden. Schließlich und - in dieser Beziehung - zu jedermanns Wohl dominiert hier der russisch-orthodoxe Glaube, welcher sich wohl erst zum Neujahrstag ausgelassen manifestiert (doch das werde ich wohl nicht mehr erleben). Bis dahin ist es lediglich äußeren Zwängen zuzuschreiben, wenn zur Weihnachtszeit Besinnlichkeit einkehrt, schließlich ist man in jeder Richtung von Katholiken umgeben und wenn das Importgeschäft über die Feiertage dichtmacht, geht auch hier nicht mehr viel.

[] Kaliningrad / Montach, 12. Dezember 2005

Kalter Wind über geschorenem Kopf.

Es ist nicht weise, sich im Winter die Murmel zu kurz abdrehen zu lassen, schon garnicht wenn man eine Mützenallergie hat. Der Wind treibt den Sprühregen am Strand entlang, Grog-Wetter. Der Schnee ist längst gewichen. Ein Dutzend Möwen streitet kreischend um fliegendes Brot. Die Wellen brechen sich laut und zahlreich, sie fressen den Strand und machen ein klackendes Geräusch, wenn sie sich über die Steine zurückziehen. Der Himmel bleibt grau. Das mickrige Tageslicht schwindet schnell, Gelegenheit für den Grog am Kamin im schwach besuchten Promenadenrestaurant.

[]Swetlogorsk / Sonntach, 11. Dezember 2005

Stillleben im verlotterten Garten mit der abgebrannten Datsche.

Gleich neben dem Bahndamm steht das alte Kraftwerk. Die Schlote rauchen friedlich in die beißend kalte Luft. Jenseits des Walls schlafen still die verlassenen Schrebergärten mit ihren abgebrannten Datschen, nur die verkohlte Tür steht noch, ein paar Eckpfeiler, schwarz und schief, angekokelt die Bäume nebenan. Äpfel klopfen von unten ans Eis der Pfützen. Sonst regt sich nichts in der Brache, ein paar Fußspuren im Schnee verraten, daß hin und wieder jemand hier herumschleicht. Etwas weiter bellt ein Hund, verteidigt ein noch nicht sich selbst überlassenes Grundstück. Hier also bin ich auf Fotosafari.

[]Kaliningrad / Freitach, 09. Dezember 2005

Der Gast ohne Gesicht.

Hängt man als notorischer Langzeit-Hotelgast immer das "Bitte nicht stören"-Schild an die Klinke wenn man im Zimmer ist und geht nicht an die Tür wenns klopft, wird man auch draußen nicht an der Tür gesehen, bleibt man den Putzfeen im Idealfall unbekannt. Sie sollten damit also bestenfalls nicht in der Lage sein, das Gesicht auf dem Gang mit einer Zimmernummer zu verknüpfen.
Ich kann also, meiner Anonymität gewiß, die gerade über das ganze Waschbecken verteilten Barthaare und die von der Schere gesprungenen Fingernägel ignorieren, das tropfnasse Handtuch in die Ecke pfeffern, das Bad täglich unter Wasser setzen, Papier und Müll überall liegen lassen, die zerwühlten Laken mit Schokoladeflecken (iih!?) und sonstigen Spuren menschlichen Ursprungs so belassen, wie ich sie schlaftrunken geflohen habe, alte Socken und Klamotten im Zimmer verstreuen, muß mich nicht um die verräterischen Dinge im Abfalleimer sorgen etc. Alles ganz entspannt und junggesellig.
Bis zu dem Tag, wo die Deckung auffliegt (oder man sie notgedrungen verläßt). Die Etagenverantwortliche mustert mich von oben nach unten und wieder zurück, als ich meine Wäsche abgebe, aha, sagt ihr prüfender Blick, ob anerkennend oder einfach nur aha, keine Ahnung. Jedenfalls schnappen die Synapsen zu, der Kerl gehört also in dieses Hemd (dann hat er bestimmt auch die Socken mit dem Loch und die Unterhose mit den Schlümpfen an, hihi), der ist das also, der die soviele ... verbraucht (zum Beispiel). Und die Schublade geht auf, rein mit ihm. Die Zeit der Sicherheit ist vorbei und das Zimmer bekommt ein Gesicht, das Gesicht einen Stempel. Von nun an schlägt man die Augen nieder und ist ausnehmend höflich, wenn eine Uniform ins Blickfeld kommt. Das Versteckspiel ist vorbei, jetzt weiß die Putze, in wessen Privatleben sie tagtäglich legal und auf Verlangen einbricht, wem sie als Beweis dafür alles an seinen alten Platz zurücklegt. Man glaubt taxiert zu werden und fühlt sich klein, habe ich da den Anflug eines abschätzigen Lächelns gesehen? Oder war das ein wissendes Augenbrauenlupfen? Doch eher eine Ich-bin-die-die-das-alles-aufräumen-muß-Gesichtsfaust? Man lebt in Angst, jedes Klopfen kann das letzte sein.
Schweißgebadet wacht man mitten in der Nacht schreiend auf und sieht die gestrenge Matrone im Plastikkittel mit Häubchen und Wischmop in der Hand am Bett stehen und keifen: "Hoch jetzt, ich muß hier poootzään!"

[] Kaliningrad / Mittwoch, 07. Dezember 2005

Russkaja Banja.

Schnee fällt in zarten Flocken. Eineinhalb Stunden vor Eintreffen der wärmebedürftigen Gäste hat der Eigner der ländlich-rustikalen Russkaja Banja im Kurischen Lesnoje den Ofen geheizt, Tee und Bier und kleine Knabbereien sind besorgt. Nach einer reinigenden Dusche geht es, mit einem Laken umschlungen, in die Schwitzkammer, der Eimer mit dem Aufguß, Birkenzweige in heißem Wasser geweicht, wartet schon. Alternativ nehmen wir einem Bieraufguß, die Birke spielt aber später noch eine Rolle. Uns wird zu einer Kopfbedeckung als Hitzeschutz geraten, denn beim Aufguß kennt unser russischer Freund kein Erbarmen, Kelle um Kelle gießt er auf die zischenden Steine, wer oben sitzt spürt schnell den Effekt. Die Suppe läuft und läuft. Hätte ich doch nicht über die Mützen der anderen lachen sollen?? Ich mach mal 'ne Pause, draußen hat es noch etwas geschnitten, barfuß stehen wir dampfend auf dem Hinterhof, seifen uns mit der weißen Pracht ab, was geil. Drinnen trinken wir Tee mit Zucker und Bier, während die ersten zur Sonderbehandlung gebeten werden.
Der Gastgeber legt Holz nach, nächster Aufguß. Natürlich lasse ich mir nicht anmerken, daß mir schon etwas schwummerig ist, hier drin ist es eben am gemütlichsten. Bald brauche ich noch eine Pause, kleine Schneeschlacht gefällig?! Die Dampfschwaden unserer erhitzten Leiber lassen die kalte Luft nicht heran.
Jetzt ist die Zeit für meine Sonderbehandlung. Ich lege mich auf die oberste Bank. Unser russischer Begleiter haut zwei Kellen vom Bieraufguß auf die Steine, der feuchtheiße Schwall nimmt mir den Atem. Nun kommen die Birkenzweige zum Einsatz, kurz am zischenden Ofen ausgeschlagen traktieren sie kräftig meine Rückseite, eine erstklassige Auspeitschung! Die Büschel tanzen von den Füßen zu den Schultern und zurück, daß es ein Fest ist. Der Trakteur verschwindet kurz und kommt mit einer Handvoll Schnee zurück, die er genüßlich auf meiner Rückseite verteilt, dann gibt's noch eine Runde Prügel vom Feinsten. Nun heißt es umdrehen und die empfindlichen Körperteile zuhalten, und diese Seite bekommt dieselbe Lektion, klasse. Noch zwei Minuten liegenbleiben. Länger halte ich es auch nicht mehr aus, mit Birkenblättern übersät stehe ich im Schnee und atme die kalte Luft. Leider ist drinnen für warme Füße nicht gesorgt, das Laken klebt naß am Körper, so kann man nicht rumsitzen, es ist besser, so langsam wieder in die Klamotten zu steigen um keinen Schnupfen zu riskieren.
Zufrieden und um eine Erfahrung reicher steigen wir in den Bus und fahren durch den weiter fallenden Schnee zurück. Schade nur, daß all meine fotografischen Beweise in den ach so zarten Schaltkreisen der sensiblen Speicherkarte gefangen sind und wohl nimmermehr erlöst werden.

[] Lesnoje / Sonntach, 04. Dezember 2005

"Alle Maschinen volle Kraft zurück!

Segel brassen und kielholen!" Der Käpt'n bellte die Worte hart in den Wind, sein bärtiger Kopf schwoll wie eine aufgeblasene rote Papiertüte, die gleich mit lautem Knall ihre Kuchenkrümel über den ganzen Kombüsentisch zu verteilen drohte. Sein entmanntes Echo, die fistelige Stimme des ersten Offiziers, machte die geschmacklos tätowierten Männer an Deck grimmig lächeln, wieder dachten einige an die kleinen, mit Schokolade umhüllten Kokosriegelchen, während sie routiniert die Rah flanschten und die wildgewordene Luv von der entkräfteten Lee zerrten.
Sie alle hatten es im Urin: Blut, Nierensteine und die Gewißheit, sie würden diesmal nicht entkommen. Der Käpt'n hatte wohl wieder zuviele Rumkugeln eingeworfen, denn ihm war die drohende Gefahr als letztem gewahr geworden, jetzt sprang er auf der Brücke herum wie ein aufgezogener Plastikfrosch.
Die Mannschaft hatte von Beginn an gewußt, daß es Wahnsinn war, der Titanic das Blaue Band abjagen zu wollen und sich dafür in diese gefährlichen Gewässer zu begeben. Aber wer wollte den störrischen alten Seesack da oben belehren? Es mußte einen triftigen Grund für seinen Ehrgeiz geben. Todessehnsucht? Altersschwachsinn?
Der Kahn hatte schon einiges hinter sich, war hier, da und dort geschippert, was aber die Mannschaft immer wieder bewog, mit ihm in ein neues Wagnis aufzubrechen, war jenseits katalogischen Denkens. Und das Grauen war jetzt zum Greifen nah.
Der Junge im Ausguck hatte ihn schon früh erahnt, ihn gespürt bevor seine Augen ihn fanden. Die Hämorrhoide juckte heute wieder vielsagend. Und bald wurde es eindeutig. Da war er. Der Knabe hatte mit den Augen gerollt und begonnen, ein altes Lied zu brummen, denn ein neues kannte er nicht. Die da unten hatten aufgehorcht und unmerklich mit den Köpfen genickt. Sprechende Blicke ersetzen nichtssagendes Gequatsche.
Und bald begann das Gefühl wie Nebel über die Planken zu kriechen, nun spürten alle die Gefahr und ihre Unausweichlichkeit. Mit der Gewißheit war eine fast spürbare Ruhe und Gelassenheit gekommen, ein Ende der Anspannung, eine Sicherheit, die eben in der Unausweichlichkeit begründet lag.
"...Segel brassen und kielholen! Schoten fieren und Ruder back hartbord!" Der Koch fuhr fort mit geübter Hand die Schoten zu vieren, die auf dem blutverschmierten Kombüsentisch hin und her kollerten. Zwei Finger hatte er noch. Schwerfällig begann sich der störrische Seelenverkäufer den Anstrengungen der eingespielten Mannschaft zu fügen. Das alte Holz ächzte und jammerte, die Taue knarrten, die Segel schnalzten mit ihren leinwandenen Zungen. Um die Aussichtslosigkeit wissend, gaben die Männer gleichwohl ihr Bestes, schließlich waren sie allesamt Nichtschwimmer.
Doch es half nichts, ein Knarzen und Schaben, das aus Richtung Kiel kam, kündigte das Ende an, dann ging alles rasend schnell, das Schaben wurden zum Tösen, dann zum Donnern, bevor es mit einem Poltern und Krachen in ein Splittern überging, das vom Bersten des Rumpfes unterrichtete.
Stille. Ein Stöhnen, dann noch eins und noch ein weiteres, es schwoll an zu einem grausigen Lied, das über den Ozean scholl und sich an den Flanken des Eisbergs brach. Vom Schiff war nicht viel übrig, ein Haufen Holz nur, das Weiß des Eises übersät mit bluttriefenden Körpern, leblos und schauderhaft verdreht. Apathisch starrten die wenigen Übriggebliebenen auf das Wrack, das eben noch ihr Zuhause gewesen war. Endlich ergriff einer das Wort, das unbenutzt in der eiskalten Luft hing und sie klaubten das wenige Brauchbare aus dem zerborstenen Trümmerhaufen. Mit leeren Augen saßen sie nun um ein kleines Feuer, über denen rote Schoten lustig köchelten. Nacheinander tauten sie auf und begannen, die noch heißen Pläne zu schmieden, um das eisige Eiland zu verlassen und neu anzufangen, wie damals, als die ersten von ihnen auf einer Sandbank dem stärksten Taifun aller Zeiten davongesegelt waren. Voller Elan gingen sie daran, ein neues Boot zu zimmern. Vielleicht etwas kleiner. Erstmal.

Extrakt.
Wie Planung auf unerbittliche Realität trifft und daran zerschellt. Der Nachruf auf Kaliningrad war fertig, sollte in die Freitagsausgabe aus Warschau. Aber wer wollte sich beklagen.

[] Kaliningrad / Sonntach, 04. Dezember 2005

Glasierte Äpfel am Fluß der niemals zufriert.

Wer ist der Herr der verwilderten Apfelbäume? Niemand? Wie mögen sich die armen Rotlinge gefühlt haben, als ihr Baum sich entblätterte und sie ungeschützt im Wind schaukelten? Wer kennt die Gefühle der späten Äpfel? Und der Wind, das himmlische Kind, holt sie einen nach dem anderen herunter. Die letzten Blätter decken sie zu, dann kommt der Schnee und - schwupps - liegen sie da wie glasiert, doch niemand will zubeißen. Liegt es an der Nachbarschaft? Nebenan rauscht nämlich der grüngraue Fluß der niemals zufriert, dampfend und geruchsintensiv zieht die städtische Kloake ungeachtet des Frostes dahin.

[]Kaliningrad / Samstach, 03. Dezember 2005

Den Tag zur Nacht gemacht.

Schlafentzug ist eine sehr einfache und wirkungsvolle Folter, die - außer einem leeren Blick und abgrundtiefen Augenrändern - keine sichtbaren Spuren am Körper des Opfers hinterläßt. Psychisch labilen Kandidaten kann man damit wahrscheinlich recht zuverlässig streng vertrauliche Informationen entlocken, aber das war nicht das Ziel meiner Peiniger.
Trotzdem weiß ich heute, zerschlagen und mürbe nach zwei spontan anberaumten Nachtschichten und unter Androhung einer weiteren, wofür die Genfer Konventionen erdacht wurden. Die Folterknechte sind allerdings inkonsequent und selbst ebenso müde, so lassen sie zu, den Verlust am Tage leidlich auszugleichen. Ungeübte tun sich mit einer Umstellung der biologischen Uhr auf Zuruf aber schwer. Ein Jetlag ist ein Scheiß dagegen.

[] Kaliningrad / Samstach, 03. Dezember 2005

Winter.

Die örtlichen Krankenhäuser müssen voll sein von gebrochenen Beinen, Armen und Hüften. Wie mit Diamanten übersät glitzern die tags getauten und über Nacht gefrorenen Straßen, kein Dummkopf, wer sich seine alten, stinkigen Socken über die Schuhe zieht um nicht tausendmal auf die Fresse zu fallen. Man hat nicht das Gefühl, daß es etwas Anlaufzeit braucht, damit der Winterdienst funktioniert, es wirkt eher wie ein Aussitzen. Irgendwann ist auch dieser Winter vorbei, soviel steht fest. Laßt uns für die Armen und Kranken beten. Amen.

[]Kaliningrad / Donnerstach, 01. Dezember 2005

...und hier geht's weiter in die Vergangenheit.